Ein Fluss im Zigeunerdorf

Armut in Indien

Immer wieder wird mir die gleiche Frage gestellt, „Hast du viel Armut in Indien gesehen?“

Und dann komme ich jedes Mal ins Nachdenken. Ich war lange Zeit im Süden von Indien und Armut verbinde ich mit den Slams von Delhi, wo Weisenkinder verstümmelt werden, um mehr Mitleid beim Betteln zu verursachen. Aber so etwas habe ich nie gesehen. Ich muss dazu sagen, dass ich auf dem Land gelebt habe. Es wäre sicher noch mal anders gewesen, wenn ich in dem 3 Stunden entfernten Chennai gewohnt hätte.

Also ich krame in meinen Gedanken, weil ich immer noch darüber nachdenke, wo ich Armut gesehen habe und frage mich, woran ich das fest machen soll.

Ich schaue auf Wikipedia nach, wie dort Armut definiert wird und finde: „Armut bezeichnet im materiellen Sinn als Gegenbegriff zu Reichtum primär die mangelnde Befriedigung der Grundbedürfnisse nach Kleidung, Nahrung, Wohnung und Erhaltung des Lebens. …“

Befriedigung der Grundbedürfnisse? Ich komme ins Grübeln. Die meisten Inder im Staat Tamil Nadu haben ein Haus (sei es aus Holz, Wellblech oder Stein), tragen saubere Kleidung und sehen nicht unterernährt aus.

Absolute Armut und relative Armut

Dann lese ich weiter auf Wikipedia, „Zu wirtschaftlicher Armut im engeren Sinne gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Festlegungen. Zum einen die absolute Armut, bei der einer Person weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung stehen, zum anderen die relative Armut, bei der ein Einkommen deutlich unter dem mittleren Einkommen eines Landes oder Staates liegt. …“

Jede Frau und jeder Mann, die ich kennen gelernt habe und die nicht studiert haben oder beim Staat arbeiten, bekommen ein Durchschnittsgehalt von 1,0 US-Dollar am Tag. Wenn ich also nach der relativen Armut gehe, dann sind geschätzt 90% der Dorfbewohner in Tamil Nadu arm. Aber mein Bauch grummelt ganz komisch, wenn ich über diesen Satz nachdenke. Diese Leute würden sich nicht als arm sehen. Sie leben in sauberen Steinhäusern, gehen einer ordentlichen Arbeit nach, haben 3 Mahlzeiten am Tag und sind angesehen in der Dorfgemeinschaft.

Schauen wir uns mal die relative Armut an. Jeder gilt als arm, der deutlich weniger als das mittlere Einkommen im Land verdient. Da ich keine Statistiken habe, überlege ich wer wirklich weniger hatte als andere. Und vielleicht auch keine Perspektive hat. Und da fallen mir zwei Gruppen ein:

  1. In den Touristenstraßen sind mir täglich Kinder aufgefallen. Sie tragen alten aber ordentlicher Kleidung und haben kleine selbstgenähte Säckchen verkauft. Jeden Tag fragte ich sie, warum sie nicht in der Schule sind. Und jeden Tag bekam ich die Antwort, „Heute ist keine Schule.“ Wer nicht in die Schule geht, kann keinen Abschluss machen und wird keine Arbeitsstelle bekommen, in der er wenigstens 1,0 US-Dollar am Tag verdient. Kinder ohne Perspektive.
  2. Dann fallen mir noch die Zigeuner ein, die ihre Zeltstadt an meinen Arbeitsweg aufgebaut hatten. Zelte, aus Stoffresten und Plastikplanen zusammen geschustert. Kleidung, die schon bessere Zeiten gesehen hat. Und Menschen, die den ganzen Tag ohne erkennbare Aufgabe zwischen den Zelten sitzen, sich streiten oder im Staub stochern. Als dann auch noch die Monsunzeit kam, verwandelte sich die Zeltstadt in einen Bach. Alle Gegenstände, die nicht befestigt waren wurden in den Wochen des abfließenden Wassers mitgerissen. Geschlafen wurde auf aufgeständerten Betten im Zelt, durch das der Fluss knöcheltief durch floss.

Eine andere Definition der Absolute Armut

Diese Menschen kamen der Definition des ehemalige Präsident der Weltbank, Robert Strange McNamara, für den Begriff der absoluten Armut am nächsten: „Armut auf absolutem Niveau ist Leben am äußersten Rand der Existenz. Die absolut Armen sind Menschen, die unter schlimmen Entbehrungen und in einem Zustand von Verwahrlosung und Entwürdigung ums Überleben kämpfen, der unsere durch intellektuelle Phantasie und privilegierte Verhältnisse geprägte Vorstellungskraft übersteigt.“

Indien meiden, um keine Armut zu sehen?

Erst vor kurzem hat mir ein Bekannter aus Deutschland gesagt, er würde niemals nach Indien reisen, weil er die Armut nicht sehen will. Wenn er in den Urlaub fährt, dann will er sich erholen.

Gerade letzte Woche habe ich eine Dokumentation im Fernsehen gesehen und dort wurde berichtet, dass in Europa in 2017 jeder 4 Bürger als arm definiert wird, wegen erheblicher materiellen Entbehrungen. Bei meiner Recherche im Internet fand ich einen Artikel, in dem jeder 5te Deutsche unter der Armutsgrenze angesiedelt ist.

Was will ich andeuten?

Ehrlich gesagt, weiß ich es nicht. Armut ist für mich ein schweres Thema, dass man nicht so einfach pauschalisieren kann.

Es ist Fakt, dass es viele Leute gibt, die weniger haben als andere auf dieser Welt. Und die Schere geht immer weiter auseinander.

Auch kann man sagen, dass es Armut in jedem Land gibt.

Und man kann davon ausgehen, dass jede Person Armut für sich individuell definiert. Während der eine seinen Reichtum in Freundschaften findet, empfindet der nächste sich als Arm, wenn sein Smartphone kaputt gegangen ist.

Armut auf Wikipedia:  https://de.wikipedia.org/wiki/Armut#Absolute_und_relative_Armut

Armut in Deutschland: https://www.tagesschau.de/inland/armut-deutschland-105.html

 

Auf dem Land von Tamil Nadu

[Google_Maps_WD id=15 map=14]

 

Weitere Geschichten über Indien

Die Bahn kommt

Da steht eine Kuh auf der Veranda